Interior. Christelle Kahla, Anita Mucolli, Julia Steiner, Nicolas Vionnet

«Alles Äussere – die Stadt und ihre eigentümliche Atmosphäre, die Zimmer (…), all das sind nur Zeichen, Symbole der inneren geistigen Welt des Menschen, nur Spiegelungen des inneren menschlichen Schicksals.» (Fiodor Dostojewskij)

Die Ausstellung «Interior» in der Kunsthalle Palazzo beschäftigt sich in unterschiedlichster Weise mit dem «Inneren». Einerseits geht es um den architektonischen Innenraum und dabei um die spezifische Wahrnehmung und Bewegung in den Räumen der Kunsthalle Palazzo. Andererseits werden mentale, also nicht physisch betretbare Innenräume thematisiert. Auftauchend und wieder verschwindend laden diese uns ein, sie mittels Wort und/oder Bild sichtbar zu machen. Diese neben der taktilen Umgebung existierende Parallelwelt von imaginierten, inneren Bildern hat die Kunst seit jeher befruchtet. Individuelle Vorstellungen, Gedanken und Träume sind ebenso Teil dieser Ausstellung wie Wände, Fenster, Vorhänge, Durch- und Einblicke. Eingeladen wurden vier Künstler*innen, Julia Steiner, Anita Mucolli, Christelle Kahla und Nicolas Vionnet, die unterschiedliche Rauminstallationen schufen.

Fotos: © Daisuke Hirabayashi

Fotos: Michael Babics mit Olivia Jenni

 

Christelle Kahla
Die aus der französischen Schweiz stammende Künstlerin Christelle Kahla kreiert farbintensive und ornamental anmutende Werke. Ihre Bilder entstehen meist auf Leinwänden, die direkt und ohne Keilrahmen auf die Wand gepinnt werden, was diesen eine verführerische Unmittelbarkeit verleiht. Sie arbeitet mit Spraydose und Klebeband und realisiert dabei organisch ineinander verschlungene Schlangenlinien oder geometrische Gitterstrukturen, welche durch die repetitive Anordnung eine immersive Wirkung entfalten. In der Kunsthalle Palazzo ist Christelle Kahla eingeladen worden, den schmalen Raum sowie den kleinen Ausstellungsraum zu bespielen. Vom Eingangsbereich kommend treten wir in eine korridorähnliche Situation, von welcher Fenster ähnliche Bilder einen Ausblick in einen imaginären Aussenraum ermöglichen. Die Künstlerin hat sich dabei bei der Komposition an bunten Glasfenstern im Art Nouveau Stil orientiert, die in Pariser Wohnungen der Bourgeoisie anzutreffen sind. Die Bilder changieren in der Wahrnehmung zwischen abstrakter Malerei und dem imaginierten Fensterausblick und ermöglichen ein spannendes Spiel zwischen Oberfläche und räumlicher Tiefe. Vegetative Ornamente erinnern an Fassaden hochkletternde Pflanzen, ein Schriftzug lässt an Leuchtreklamen oder Graffitis im urbanen Raum denken und der Himmel regnet kleine Herzen. Die Bilder öffnen und verschliessen, machen sichtbar und verdecken, geben etwas preis und hinterlassen Rätsel. Eine Raumstimmung, die beinahe Abbild der inneren Gefühlswelt eines sich kennenlernenden Liebespaares sein könnte.

Anita Mucolli
Die Künstlerin Anita Mucolli beschäftigt sich in ihrem Werk mit fiktionalen Räumen, welche sie architektonisch nachbaut und damit physisch erlebbar macht. Die von ihr kreierten Räume erscheinen dabei wie Filmsets, bereit mit einer Geschichte bespielt zu werden. Als Betrachtende innerhalb dieser begehbaren Räume wird man selbst zum Protagonisten und trägt mit Bewegung und Gedanken einen entscheidenden Teil zum Werk bei. Die eigenen Erinnerungen und die mit der Raumstimmung verbundenen persönlichen Bezüge vermischen sich mit dem Gesehenen. Dabei lassen sich Fiktion und Realität nicht mehr klar voneinander trennen. Mittels physischer Präsenz werden die Räume der Fiktion entzogen und in unsere eigene Wirklichkeit transferiert. Für die Kunsthalle Palazzo hat Anita Mucolli eine neue Rauminstal-lation konzipiert, welche den ursprünglichen Ausstellungsraum gänzlich verändert und die Besuchenden in eine einzigartige Stimmung eintauchen lässt. Beim Eintreten fällt zuerst der glänzend weisse Boden auf. Wir befinden uns in einer Art öffent-lichem Transitraum, der durch die helle Umgebung und die karge Einrichtung beinahe antiseptisch erscheint. Auf unserer rechten Seite öffnet sich eine von zwei Leuchten flankierte Tür mit anziehender Wirkung. Gespannt nähern wir uns, durchschreiten diesen schmalen Durchgang und gelangen in eine liftähnliche Kabine. Wo befinden wir uns? Ist dies ein Lift, welcher uns in ein anderes Stockwerk, an einen anderen Ort, oder vielleicht sogar in eine andere Zeit versetzen kann? Beim näheren Umsehen entdecken wir einen Durchblick gewährende Öffnung in der Wand. Eine fast traumähnliche Szenerie ist zu sehen. In schummriges Licht gehüllt entfaltet sich ein neuer, sichtbarer, jedoch nicht betretbarer Raum. Könnte dies eine Einsicht in die eigene Vergangenheit sein? Oder lässt uns dieses Fensterchen in die Erinnerung eines anderen Menschen blicken? Anita Mucolli hat eine höchst faszinierende Raumlandschaft geschaffen, die eine Reise in persönliche Erinnerungswelten und imaginäre Zeiten ermöglicht. Sie lässt uns in mentale, wie auch gebaute Räume eintauchen und hinterlässt ein Kaleidoskop von inneren und äusseren Bildern.

Julia Steiner
Julia Steiner zeigt in der Kunsthalle Palazzo die Arbeit «der letzte Raum». Dieser seit 2016 entstandene Werkzyklus befindet sich im noch immerwährenden Prozess der Veränderung. Es handelt sich um die Visualisierung und physische Rekonstruktion eines Traumes, in welchem der Künstlerin im Bett liegend der Raum erschien, indem sie einmal sterben wird. Ein Raum mit weissbezogenem Bett und Wandzeichnung. Für die Ausstellung in der Kunsthalle Palazzo hat Julia Steiner diesen «letzten Raum» weitergedacht und eine installative Arbeit realisiert, welche den geträumten Raum im Massstab 1:1 erlebbar macht. Die ursprüngliche Version des «letzten Raumes», Architekturmodell ähnlich auf Stelzen stehend und in Holz gebaut ist nun einer viel leichteren Version gewichen. Von der Decke hängend und zwischen feinen Stelzen über den Boden gespannt entstand ein zeltartiger neuer Raum. Sowohl Wände, wie Boden und Decke sind mit einer feinen Zeichnung versehen, die in der Innen- wie auch Aussenperspektive sichtbar ist. Licht dringt durch die transparente Stofflichkeit und lässt den Raum je nach Tageszeit wie eine Laterne leuchten. Fast schwerelos wirkend lässt dieser Raum die Todesassoziation in den Hintergrund rücken und schafft Platz für Hoffnung und Gedanken an neu entstehendes Leben. «Der letzte Raum» wird somit zum Werkzyklus von Sein, Kommen und Gehen. Die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens wird thematisiert, währenddessen ein neues Gefäss der Hoffnung entsteht. Am Boden ruhende Gefässe aus Keramik ergänzen die Installation des «letzten Raumes». Diese hat Julia Steiner während der Corona Zeit täglich neu geformt. In unterschiedlichster Ausprägung ausgeführt visualisieren sie jeweils einen oft in Innenräumen verbrachten Zeitabschnitt. Und in ephemerer Weise präsent ist auch die ursprüngliche Wandzeichnung des Werkzyklus «Letzter Raum». Im Verlaufe des Werkprozesses hat Julia Steiner diese abgeschliffen und den Abrieb in kompakter Form in einem Glas untergebracht. Für diese Ausstellung hat sie den Abrieb wiederverwendet. Mit Wasser vermischt und mit Pinsel aufgetragen ist ein beeindruckendes Wandbild in subtil changierenden Grautönen entstanden.

Nicolas Vionnet
Nicolas Vionnet kommt von der gestischen Malerei her und hat im Laufe der Zeit sein Interesse dem öffentlichen Raum und dessen Rezeption zugewandt. Mit subtilen, teilweise humorvollen Eingriffen verändert er die Wahrnehmung und fokussiert die Aufmerksamkeit auf neue Bereiche. Beispielsweise hat er grüne Wiesen lila eingefärbt, so dass sie den Anschein von dichten Blumenwiesen erhielten. Oder er positionierte eine von Gras bewachsene künstliche Insel auf einem städtischen Teich. In jüngster Vergangenheit hat er sich mit alltäglichen Gegenständen beschäftigt, die durch seine gezielte Transformation in ihrer Funktionalität in Frage gestellt werden. An surreale Objekte der 1920er Jahre wie das mit Nägeln versehene Bügeleisen von Man Ray erinnernd, erhalten die Gegenstände einen neuen überraschenden Kontext. In der Kunsthalle Palazzo widmet sich Nicolas Vionnet den ersten beiden Räumen des Ausstellungsrundganges, indem er Erinner-ungen und Sehnsüchte an vergangene Zeiten thematisiert. Gleich zu Beginn ist ein grossformatiges Bild zu sehen, das eine Himmelsan-sicht mit imposanten Wolken zeigt. Leicht spürbar ist ein durch den Raum ziehender Wind. Quelle davon ist ein skulptural anmutendes an der Wand montiertes Lüftungsrohr, das die Besuchenden jeweils mit einem Luftstoss empfängt. Der Blick in den zweiten Raum ist von einem riesigen aufgeblasenen Ball geprägt. Dieser hat sich in den Raum gezwängt und verunmöglicht die Passage durch den Raum. Wir bewegen uns wieder rückwärts eventuell begleitet von Assoziationen, welche mit dem aufgeblasenen Ball in Verbindung stehen. In Kombination mit dem subtilen Wind, welcher durch unsere Haare und über die Haut zieht, und der grossformatigen Himmelsansicht können dies Reminiszenzen an kindliches Ballspiel an Meeresstränden sein. Inspiriert durch das Gesehene entstehen mentale Räume, die mit individuellen Erinnerungen angereichert und gefüllt werden.

 

Saaltexte der Ausstellung (PDF)

 

Digitale Führung mit Kurator Michael Babics:

 

Pressestimmen:

BZ Besprechung Interior 6.10.2021

OBZ Besprechung Interior 16.9.2021

Artline Anita Mucolli 14.9.2021

Programmzeitung Anita Mucolli 10.2021

 

Plakat der Ausstellung. Gestaltung von Studio HübnerBraun

 

Die Ausstellung wurde grosszügig unterstützt von: